Verantwortung der Gesellschaft vs. Verantwortung des Einzelnen

Markus Somm kritisiert in seinem Artikel Nachrichten von der «Titanic» die Haltung, dass die Gesellschaft ihren Anteil daran habe, jemand in die Kriminalität zu führen. Er stellt die These auf, dass ein Charakter dazu verleitet, sich zum Verbrechen hingezogen zu fühlen. Ein Plädoyer für eine ausschliesslich individuelle Betrachtung unserer Handlungen.

Meine Gedanken dazu

Sicher hat jeder im Privaten oder im Beruf schon eine persönliche Verhaltensänderung festgestellt. Wie weit diese Verhaltensänderung  – sei es im Positiven oder im Negativen – durch sich selber – laut Artikel dem eigenen Charakter – oder durch sein Umfeld beeinflusst wurde, ist eine bekannte Auseinandersetzung in unserem Zusammenleben. Die Grenze zwischen eigener Entscheidung und Fremdbestimmung auszuhalten, zwischen wegdelegieren und sich selber verantwortlich fühlen, ist wohl eine der grössten Herausforderungen, die es in unserem Leben zu begehen gilt. Gerne gebe ich Anderen oder Anderem die Schuld, gestehe aber selber immer wieder für mich ein, dass ich meine Verantwortung für den Anderen oder das Andere trage. Auch ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen. Die persönliche Freiheit ist mir wichtig, zu viel Fremdbestimmung und Kontrolle lehne ich ab.

In der ganzen Individualisierungsdebatte erkenne ich jedoch einen Drang zur Distanziertheit und zur Vereinfachung. Es scheint, als werde eine Mauer aufgebaut, für andere und das Wohl unserer Gesellschaft Verantwortung übernehmen zu müssen. Im Zentrum steht das ICH, das bestehen muss. Vorhandene soziale Ungleichheit wird mit dem Argument der Selbstverantwortung negiert. Somms Zuspitzung auf die Verantwortung des Einzelnen bzw. Verneinung der gesellschaftlichen Einflüsse widerspiegelt also nichts anderes als den heutigen Zeitgeist der «modernen» Gesellschaft. Die Gefahr dabei: Man hört auf zu lernen, sich für das Andere zu interessieren, zu streiten, sich zu reiben und Kompromisse einzugehen. Egoistisches Handeln und vor allem die Sorge um sich selber nimmt ständig zu.

Vordergründig widersprüchlich auch, dass gerade die bürgerliche Seite bei wirtschaftspolitischen Fehlhandlungen oder bei sogenannten Managementfehlern auf den „systemischen Zusammenhang“ bzw. die äusseren Einflüsse hinweist. „Das wirtschaftliche Gesamtumfeld brachte uns in Schwierigkeiten“, o.ä. Die Entscheidungsverantwortung wird wegdelegiert. Erstaunlich? Nein – menschlich. Immer dort, wo man selber davon betroffen ist, versucht man sein Handeln in einen bereiteren Kontext zu stellen, auch um sich zu entlasten. Auf jeden Fall macht dieser Reflex deutlich, dass unser selbstverantwortliches Handeln halt doch begrenzt ist. Die Gegenseite bzw. Nichtbetroffene kritisieren dies als Ausrede und möchten die Schuld am Einzelnen festmachen. Nicht zuletzt um dem Fehler mehr Gewicht zu geben.

Ein Mensch, der einen Raubüberfall begeht, versucht spätestens bei der Gerichtsverhandlung zu erklären, wie es überhaupt so weit gekommen ist. Bei Gewaltdelikten beobachte ich, dass Täter oder Täterinnen nach der Tat sehr viel zu erzählen haben, dass mit weit mehr als den individuellen Entscheidungen ein Delikt zu begehen zu tun hat. Klar gilt es dann heikle Entschuldigungs- und Legitimierungsmechanismen zu kritisieren und die (rechtsstaatlichen) Konsequenzen sind zu akzeptieren. Aber die gesellschaftlichen Einflüsse sind auch hier nicht wegzudiskutieren.

Das ich richtig verstanden werde: Ich nehme hier keine Gleichsetzung zwischen verschiedenen Handlungen vor. Um den Mechanismus geht es mir. Es macht in keinster Weise Sinn, die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Einfluss aus dem Umfeld, also der Gesellschaft, auszuspielen. Dieser Versuch entlarvt sich schnell als Mittel, politische Grabenkämpfe auszutragen oder politische Grenzziehungen zwischen ideologischen Denkmustern vorzunehmen und hat mit der Realität wenig zu tun.

Die Verantwortung von politischen Parteien wäre es, diese Zusammenhänge zu erkennen und sachlich anzugehen. Die SP macht es und wird dabei angreifbar. Es ist immer schwieriger, die gesellschaftliche Verantwortung für die Handlungen der Verlierer in unserer Gesellschaft gegen aussen hin in die Debatte einzubringen (damit legitimiert man noch keine kriminelle Handlungen) und als Lösungsvorschlag Massnahmen für weniger soziale Ungleichheit und damit mehr Sicherheit zu fordern, als auf der Sonnenseite unserer leistungsorientierten Gesellschaft zu stehen und das eigene ICH ins Zentrum zu stellen.

 

 

05. September 2012 von thomas
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