Lauter Gesichter. Nur Gesichter

Jetzt weiss ich, was ich in diesen digitalisierten Sitzungen vermisse: Die non-verbale Kommunikation. Wie vor dem eigenen Spiegelbild sitzend beobachten wir unsere Gesichter. Als seien wir in unserem Badezimmer mit Publikum. Das Viereck in der Videochatkammer zwingt uns, uns auf die Gesichter zu fixieren. Nur auf die Gesichter. Von Antlitz zu Antlitz. Jede Regung und jede Miene kann zum Schauspiel für die anderen Gesichter und für sich selber werden. Wir beobachten. Gesicht für Gesicht und fürchten, unser Gesicht verrät unsere Gedanken. So nah sind sich unsere Gesichter. Wie sonst nie an Sitzungen. Wir passen uns an und lassen unsere Gesichter erstarren. Nur keine Blösse geben. Kaum ein Augenrollen, kein Nasenrümpfen, selten ein Kopfkratzen. Wir kontrollieren uns. Wir passen uns an. Eine Monotonie von künstlichen Gesichtern.

Es fehlen mir die Hände. Ich möchte wieder Hände sehen. Gestikulierende wilde Hände. Gefaltete ruhende Hände. Finger, die nervrös auf die Tischplatte klopfen oder sich zielstrebig nach Aufmerksamkeit strecken. Hände, die sich geduldig Notizen machen oder sich sichernd abstützen. Finger, die frech in der Nase und Ohren bohren. Hände, die zu wütigen Fäuste werden oder sich zur Versöhnung vorischtig nähern.

Ich möchte wieder ein Stühlerücken hören, wenn die Menschen aufstehen und die Sitzung verlassen.

01. Mai 2020 von thomas
Kategorien: Sonstiges | Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert